Special: Hiromi verführt

Hiromi verführt – 12 Minuten Glück und ein Ohrwurm

Das Beste, was sich über eine Musik sagen lässt, ist, dass sie deinen Körper einnimmt: Du beginnst, mit dem Fuß zu wippen oder dich im Rhythmus zu wiegen – das ist noch recht leicht zu erreichen – und überhaupt dich zu konzentrieren; aber noch mehr: Es geht in die Organe und in die Nervenbahnen. Du atmest mit. Dein Herz schlägt schneller oder langsamer, und wenn du genau auf die Spannung deines Körpers achtest, bemerkst du, dass der Impuls zu tanzen an vielen Stellen zugleich erwacht und dass es da kleine, unwillkürliche Bewegungen gibt… Das ist der magische Moment, wenn Musik genau das in dir auslöst, was ganz am Anfang nämlich ihr Ursprung war, in jedem Menschen, der Musik gemacht hat: Lebensrhythmus.

Hier kommt nun eine Musik, die wirklich diese Qualität aufbringt. Es handelt sich weder um mongolische Obertongesänge noch sonst etwas Archaisches, sondern um eine Gattung, die eher mit dem Vorurteil intellektueller Spielerei zu kämpfen hat: Jazz meets Klassik. Und zwar verwandelt da die japanische Pianistin Hiromi Uehara eine der bekanntesten Melodien Beethovens, aus dem 2. Satz Adagio cantabile der „Pathétique“. Kaum etwas sonst könnte banaler, konstruierter und belangloser werden – doch nein! – Aus knapp acht Takten Thema wird ganz sachte ein Wiegenlied, eine zwölfminütige Traumreise. Sie führt durch überraschende, lyrische und lichtfunkelnde Landschaften, die anfangs einfach einschmeichelnd erscheinen, dann aber zunehmend die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen, auch die Empfindungen; es lockt den ganzen Körper mitzukommen. Wie geht das?

Schließen Sie jetzt, wenn Sie bereit sind, gute Lautsprecher oder Kopfhörer an, wählen Sie im YouTube-Player die Vollbildansicht und hören Sie sich für eine störungsfreie Viertelstunde Hiromi Ueharas Trio Project an.
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Hiromi Uehara spielt Beethoven

In jenen acht Anfangstakten nimmt Hiromi Beethovens Tempobezeichnung sehr genau – und sehr persönlich. Andante heißt nicht nur langsam, es heißt auch behutsam. Und cantabile meint eigentlich einen Menschen, der singt. Es geht um nicht mehr als eine Folge von 23 Tönen; doch die „singt“ sie: Verhalten, fast zögernd und tastend schlägt sie diese Töne an, hält inne, scheint zu lauschen, und nur einmal, nach knapp einer halben Minute, setzt sie mit drei nachdrücklichen Akkorden eine eigene Aussage, wie ein Signal, dass sie das jetzt begriffen hat.

Ihr Rhythmus wechselt also ganz organisch vom ersten Takt an. Das steht nicht in den Noten; aber sobald man diese Interpretation einmal so im Ohr hat, ist es kaum noch nachvollziehbar, warum im Vergleich dazu die begnadetsten Pianisten wie Brendel, Barenboim, Richter und viele andere das Tempo dieser Passage fast wie vom Metronom gesteuert nehmen. Selbst der sonst so exzentrische Glenn Gould, der Bach Pirouetten drehen lassen kann, wenn er will, selbst Gould* behandelt das Tempo wie ein zwar fürsorglicher, aber doch vor allem strenger Vater. Einzig der alte Vladimir Horowitz* deutet zart an, wie richtig es sein kann, hier und da einfach einen Augenblick lang zu warten. – Zurück zum Trio.

Mit der ersten Wiederholung ändert sich in dieser Interpretation quasi Beethovens Atem! Simon Phillips, der Schlagzeuger des Trios, fabriziert das fast unmerklich mit den Besen am Schlagzeug, indem er ein Sh-sh-sh-sh in den Ausklang der einzelnen langgezogenen Melodie-Viertelnoten einrührt – und er rührt die Besen ja tatsächlich; das wirkt wie leise Seufzer eines einschlafenden Kindes beim Ausatmen. Und in dieser wiegenden Bewegung lässt Hiromi die Melodie einmal und dann noch einmal kreisen, variiert sie nur leicht, bis sie sich als Schleife gut und fest ins Bewusstsein eingebunden hat und von alleine weiterklingt, auch wenn die drei auf der Bühne jetzt etwas Neues beginnen, dann wieder etwas Neues und wieder; bis es leider zu Ende ist.

Aber bis dahin gibt es so viele Überraschungen… Manche kommen auf Samtpfoten, vor allem die Rhythmus- und Stilwechsel: Vom Thema zu dem Teil, den man flüchtig für Barmusik halten könnte (2:15–2:40); von da zu dem leicht swingenden Abschnitt (3:50–4:15); aus dem heraus bricht sich plötzlich eine kleine Eruption am Klavier Bahn (4:40), die der geniale Anthony Jackson am Bass mit einem gelassenen Abwärtslauf auffängt, abfedert und an Hiromi behände wieder zurückreicht. Und dann kommt über eineinhalb Minuten die erste dieser Passagen, in denen Hiromi sich in zwei Wesen aufzuteilen scheint, eins für jede Hand, und in den hohen Lagen einen fliegenden Teppich von Trillern und Läufen auslegt, auf dem sich – nur scheinbar schlichte, beiläufige – Akkorde und Tonfolgen räkeln, während Jacksons Bassgitarre einen schlagfertigen Dialog mit diesem rauschenden Fluss von Einfällen aufnimmt. Übrigens auch zum Zuschauen mitreißend. Zwischenapplaus.

Die nächste verzaubernde rhythmische Abbiegung nimmt das Stück zwischen 6:15 und 6:40, da ist dann Schluss mit sanftem Traum und Schlummer; oder vielleicht ist es ein Traum von einer Verfolgungsjagd – jedenfalls sehr schnell und Haken schlagend … und so geht das weiter, bis wir wieder am Ausgangspunkt sind. Beethoven wird wieder Beethoven, Anthony Jackson nimmt sich des Einleitungsthemas noch einmal an, während Hiromi langsam wieder runterkommt; Ludwig van’s Geist schwebt erfrischt, wenn auch etwas mitgenommen zwischen den beiden, noch einmal von den Besen auf dem Schlagzeug sanft gestreichelt, und dann ist es zu Ende.

Was ist der Unterschied zwischen Virtuosität und Musik? – Hiromi Uehara kann Sachen spielen, die viele andere kaum auch nur nachmachen könnten. Abgesehen vom Tempo ist ihr Anschlag in jeder Situation nuanciert wie alle Farben eines Sonnenaufgangs. Kurz, sie macht am Klavier, was sie will. Das ist ihre Virtuosität. Die Musik, die sie in sich hat, das ist nochmal etwas anderes, spürbar nicht nur an ihrer Körpersprache und ihrer Mimik, sondern auch daran, wie relevant ihr Publikum für sie ist. Sie ist eben kein perfekter Tastenautomat, sondern ihre Musik lebt auch davon, dass wie bei diesem Auftritt ein Saal mit voller Konzentration quasi ihr viertes Instrument ist. Wenn sie spielt, geht nie verloren, was Musik im Grunde ist: eine persönliche Mitteilung. (Und wenn die Leute das nicht in diesem Maße aufnehmen – wie z. B. bei einem Festival in Spanien im selben Jahr – dann leidet auch die Musik.) Eigentlich ist das gut so.


* Anmerkung: In Deutschland leider teils nicht verfügbar. Bitte dann die YouTube-Suche mit „(Interpret) beethoven pathetique 2nd movement“ probieren.